Verschüttet im Schnee
Greta, eine junge Frau, ist auf dem Weg zu ihrer im Koma liegenden Mutter, doch eine Lawine erfasst das letzte Abteil und vergräbt den Wagon unter sich. Als sie zu sich kommt trifft sie auf die anderen 5 Passagiere. Verschüttet im Schnee kommt es nicht nur zu Konflikten unter den Zuggästen, sondern schnell reihen sich die Merkwürdigkeiten aneinander.
„Das letzte Abteil“ beginnt als eine Art Kammerspiel mit Horrorelementen, doch mit der Zeit wird aus der relativ durchsichtigen Situation ein Mindfuck. Leichen im Abteil; eine Telefonatrappe, mit der die Passagiere Kontakt zur Außenwelt aufnehmen; vom Tod erwachende Personen – Nicht nur die Protagonisten rätseln, was hier eigentlich vor sich geht, sondern auch der Zuschauer.
Unvorhersehbar: Das Thema
Das Setting ist hiermit klar: Protagonisten in einem verschütteten Zugabteil. Sage ich jetzt aber, was das Thema des Films ist, darf man auch hier als Leser rätseln, was in dem Film überhaupt vorgeht. Warum? Das Filmthema ist zugleich eines der komplexesten Themen aus der Ethik: Sterbehilfe.
Wie verbindet nun der Film die Situation der verschütteten Passagiere mit dem Thema der Sterbehilfe? Wie gesagt, Greta war eigentlich auf dem Weg zu ihrer Mutter, die seit Jahren im Koma liegt. In regelmäßigen Abständen werden scheinbar erstmal ohne größeren Zusammenhang zur Abteil-Situation scheinbare Flashbacks gezeigt. Dabei erfahren wir, dass Gretas Mutter im Koma liegt, weil sie sich von einer Klippe stürzen wollte und dies wohl oder übel überlebt hatte. Der Grund dafür war ihr Versagen in ihrem Job als Bergseilbahnkontrolleurin; Durch ihren übermäßigen Alkoholkonsum vergaß sie abends die Gondeln komplett zu kontrollieren, was dazu führte, dass ein Pärchen auf der Seilbahn erfror. Ihr Schuldbewusstsein drängte sie in der selben Nacht auf die Klippe, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. Greta muss sich in den „Flashback“, die sie bei ihrer Mutter im Krankenhaus zeigen mit der Frage beschäftigen, ob und wie lange sie nun ihrer Mutter noch an den lebenserhaltenden Geräten lässt. Nach und nach wird deutlich, dass es merkwürdige Zusammenhänge zwischen dem Zugabteil und den „Flashbacks“ gibt.
Um nicht Gefahr zu laufen, sämtliche Spoiler auszuplaudern, möchte ich es dabei belassen.
Die Bedeutung für den deutschen Genrefilm
„Das letzte Abteil“ ist ein waschechter Indiefilm von Andreas Schaap (Must Love Death, Tim Sanders goes to Hollywood) und hatte seine Premiere erst kürzlich am 15. September auf einem der bedeutendsten Filmfestivals Deutschlands: Internationales Filmfest Oldenburg. Doch „Das letzte Abteil“ ist nicht nur ein unabhängig finanzierter und produzierter Indiefilm, sondern eben auch Genrefilm, was mich persönlich sehr freut, weil Schaap somit zeigt, dass man auch an Förderungen und Vertrieben vorbei Filme auf die Beine gestellt bekommt und es kein Ding der Unmöglichkeit mehr ist.
Taugt „Das letzte Abteil“ dazu, als gutes Beispiel voran zu gehen?
Billiger Trash?
Bei deutschen Genrefilmen hat man oft die durchaus begründete Befürchtung, dass es sich dabei um billigen Trash handelt, der oft versucht, amerikanischen Filmen hinterherzuhecheln, aber dabei nicht versteht, worauf es ankommt. Was mich bei deutschen Genrefilmen oft stört ist, dass sie Grundprämissen oft wie Kopien von anderen Filmen scheinen und die Stories dann aber so banal und teilweise so hinkonstruiert wirken, dass man sich dann lieber wieder den „Originalen“ widmet. Dementsprechend gehe zumindest ich immer mit eine Grundbefürchtung an einen Genrefilm heran, was dazu führt, dass Mängel besonders blutig ins Auge stechen – weil man ja praktisch danach sucht.
An der Stelle muss ich sagen, dass „Das letzte Abteil“ nicht ganz befreit von diesen Mängeln ist. Übel aufgestoßen hat mir dabei vor allem anfangs die overactete Darstellung der Schauspieler, deren Klischeerollen und entsprechenden Dialogen. Am Anfang der Handlung werden die einzelnen Protagonisten etabliert, wobei von Anfang an klar ist (bzw. scheint), wer welchen Archetyp einnimmt. Da haben wir die Hauptperson Greta, aus deren Perspektive wir alles sehen; den Klugscheißer, der dem Zuschauer alles erklärt; den Anti, der immer wieder Zweifel säht; dann noch zwei vorlaute Ukrainer und einen etwas undurchsichtigen Schaffner, die als Objekte für weitere Spannungsbögen genutzt werden. Dass einem bei deutschen Filmen schnell mal „Malen nach Zahlen“ in den Kopf kommt, ist leider nicht ganz so selten, weswegen ich oft keine wirkliche Motivation aufbringen kann, diese Filme ganz anzusehen.
Was aber hat mich dann an „Das letzte Abteil“ gefesselt?
Ob eine Szene zu Ende ist, erkennt man meistens daran, dass der Ort wechselt. Aber was, wenn die Handlung weitgehend in einem Raum spielt? Bei „Die 12 Geschworenen“ (12 Angry Men) wurde dieses Problem dadurch gelöst, dass der Raum groß genug war, damit man ihn in weitere kleine „Räume“ aufteilen konnte. Doch Szenen behandeln keine Räume, sondern einzelne Konflikte: Ein Problem/Konflikt/Frage wird etabliert, behandelt und gelöst, was dann zur nächsten Szene führt. Andreas Schaap zeigt bei „Das letzte Abteil“ ganz gut, wie das funktioniert. Die Protagonisten in seinem Film sind wie Laborratten in einem Käfig, an die immer wieder neue Impulse geleitet werden. Wie reagiert die Gruppe auf eine Leiche; wie auf einen Telefonanruf; wie auf die Entdeckung einer Kamera usw? So reiht sich eine Szene an die andere, ohne wirklich den Raum zu wechseln. Die einzelnen Impulse sorgen in meist kurzweiligen Abständen für neue Spannungsbögen, die immer weiter in ein Mindfuckgeflecht führen. Je länger der Film geht, desto konzentrierter muss man aufpassen, um hinterher zu kommen.
Keine schlechte Kopie
Was man dabei hervorheben muss ist, dass der „Mindfuckteil“ nicht wie – nett ausgedrückt – eine Homage an bekannte Mindfuckfilme wie zum Beispiel Fight Club wirkt und man das Gefühl hat, dass hier wieder jemand sein Halbwissen über Persönlichkeitsstörung oder ähnliches in einen Film packen wollte, sondern „Das letzte Abteil“ verfolgt seine ganz eigene Idee, die letztendlich ein moralisches Dilemma mit sich bringt, das gelöst werden muss.
Welchen Hintergrund es zu dem Thema gibt, kann man übrigens hier nachlesen: Oldenburgers Andreas Schaap behandelt das Thema Sterbehilfe
Ob „Das letzte Abteil“ das Thema „Sterbehilfe“ vollständig mit allen Facetten abdeckt ist natürlich nicht gesagt, aber immerhin hat der Film einerseits ein Thema, das über die in Deutschland altbewährte Depression hinausgeht, andrerseits ist es mutig, unkonventionell und unvorhersehbar umgesetzt.
Ich würde nicht sagen, dass „Das letzte Abteil“ der Film ist, den jeder gesehen haben muss, aber es lohnt sich, sich darauf einzulassen und über die beschriebenen Mängel hinwegzusehen. Schafft man das am Anfang, zieht einen der Film ohnehin mit der Zeit immer mehr in seinen Bann. Ich werde mir „Das letzte Abteil“ sicher noch mal ansehen.
Zur Zeit gibt es noch keine weiteren Release-Daten. Diese wir man aber wohl auf Facebook und IMDB zuerst erfahren.
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